Seriously mad but quite normal: Besinnen

13. Dezember 2014

Besinnen

                       

Heute möchte ich einmal kein eigenes Werk veröffentlichen, sondern  einen großen, deutschen Dichter zu Wort kommen lassen. Das Thema am  dritten Adventswochenende kann nur "Weihnachten" sein. Und der  Verfasser hat zu seiner Zeit bereits thematisiert, was gerade uns  heutige Menschen im Innersten bewegen sollte.

© drago 2014  

              

Weihnachtsabend 

Die fremde Stadt durchschritt ich sorgenvoll, 
der Kinder denkend, die ich ließ zu Haus. 
Weihnachten war's, durch alle Gassen scholl 
der Kinderjubel und des Markts Gebraus. 

Und wie der Menschenstrom mich fort gespült,
drang mir ein heiser Stimmlein in das Ohr:
"Kauft, lieber Herr!" Ein magres Händchen hielt
feilbietend mir ein ärmlich Spielzeug vor.

Ich schrak empor, und beim Laternenschein
sah ich ein bleiches Kinderangesicht;
wes Alters und Geschlecht es mochte sein,
erkannt' ich im Vorübertreiben nicht.

Nur vor dem Treppenstein, darauf es saß,
noch immer hört' ich, mühsam, wie es schien:
"Kauft, lieber Herr!" den Ruf ohn' Unterlaß;
doch hat wohl keiner ihm Gehör verliehn.

Und ich? War's Ungeschick, war es die Scham,
am Weg zu handeln mit dem Bettelkind?
Eh' meine Hand zu meiner Börse kam,
verscholl das Stimmlein hinter mir im Wind.

Doch als ich endlich war mit mir allein,
erfaßte mich die Angst im Herzen so,
als säß' mein eigen Kind auf jenem Stein
und schrie nach Brot, indessen ich entfloh.

Theodor Storm (1817 - 1888)

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